«In der Sprache liegt Hoffnung»
Wenn Miriam Bastian für Migranten ehrenamtlich Deutsch unterrichtet, dann ist das Ausdruck eines gelebten Christentums.
1
Deutschunterricht für Migranten
«Können wir die Aufgabe noch zu Ende besprechen? – Bitte!», fragt Said*. «Ja, bitte!»,
stimmen 24 Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer mit ein.
Es ist Freitagabend. Die Schülerinnen und Schüler haben bereits drei geschlagene Stunden intensiv die Wortstellung in verschiedenen deutschen Nebensätzen, Rechtschreibung und mündlichen Ausdruck geübt. Sie
hätten nun eigentlich Feierabend. Dennoch scheint ihre
Motivation ungebrochen. Ich kann nicht anders, natürlich sage
auch ich Ja.
Während mein Moderationspartner Raphi und ich im
Anschluss an die Stunde im Café der Autonomen Schule
sitzen, umgeben von Kinderlachen und Essensduft, lassen
wir die Deutschlektion Revue passieren. Haben alle den NZZ-
Artikel verstanden, den wir gemeinsam gelesen haben?
Wieso war Kardelen* heute nicht so aufmerksam dabei wie
sonst?
TAli* setzt sich zu uns und bedankt sich für den
Unterricht. Er weiss, wovon er spricht. Er war selbst
Sprachlehrer in seiner Heimat. In der Schweiz darf er
nicht arbeiten und sein einziger Ausweg aus der Langeweile
und dem Grau der
Container der Notunterkunft ist das Deutschlernen. Wir
erfahren von ihm, dass
Kardelen sich Sorgen macht, weil ihr nicht genügend Geld
für das
Essen bleibt, wenn sie sich dreimal in der Woche ein Billett
kauft, um
zur Autonomen Schule nach Zürich zu fahren.
Manchmal könnte ich verzweifeln an der Alltäglichkeit
der Probleme, mit denen die jungen Frauen und Männer, die
dreimal in der Woche in den Deutschkurs kommen,
konfrontiert sind. In diesen Momenten hilft es mir, ins aki zu
gehen, wo ich Freunde gefunden habe, mit denen ich
solche Sorgen teilen kann, und wo ich im Gebet vor Gott
neue Zuversicht finden kann.
Immer wieder halte ich mir in der Stille des Gebetes
die Geschichte Israels im Alten Testament vor, die voller
Fremdheitserfahrungen, Unterdrückung und Flucht ist.
Oder ich lese Jesu Worte: «Ich war fremd und obdachlos
und ihr habt mich aufgenommen.»
Das aki bietet – bisher noch unregelmässig, aber in
Zukunft hoffentlich verstärkt – eine Plattform, die das breite
Angebot der Autonomen Schule und ähnlicher Projekte
ergänzen kann. Damit die Lernenden die erlernten
mündlichen Fähigkeiten erproben und vertiefen können,
braucht es deutlich mehr freiwillige Muttersprachlerinnen
und Muttersprachler. Im aki können Deutsch-Lernende und Deutsch-Sprechende zusammenkommen und sich austauschen.
Aktionen wie das gemeinsame Silvesteressen oder das Treffen mit Bewohnerinnen der Unterkunft Glattbrugg waren für beide Seiten eine spannende und schöne Erfahrung – für die einen ein Ausbruch aus dem
Grau des Alltags, für die anderen ein Blick über den Rand ihrer scheinbar heilen Welt.
Kommentar
Klerikalismus bekämpfen
Ein weiterer Bericht über Missbrauchsfälle erschüttert nicht nur die katholische Kirche. – Papst Franziskus prangert daraufhin unheilvolle Machtstrukturen in der eigenen Kirche an.
Papst Franziskus reagiert am 20. August in einem Schreiben schnell, unmissverständlich und ohne Ausflüchte: «Der Schmerz dieser Opfer ist eine Klage, die zum Himmel aufsteigt und die Seele
berührt, die aber für lange Zeit nicht beachtet, versteckt und zum Schweigen gebracht wurde. Doch ihr Schrei war stärker als die Massnahmen all derer, die versucht haben, ihn totzuschweigen,
oder sich einbildeten, ihn mit Entscheidungen zu kurieren, welche die Sache verschlimmert haben, weil sie damit in Komplizenschaft gerieten. Ein Schrei, den der Herr gehört hat. Er lässt uns
wieder einmal sehen, auf welcher Seite er steht.
Der Hochgesang der Maria geht nicht fehl und durchläuft die Geschichte wie eine Hintergrundmusik weiter; denn der Herr denkt an seine Verheissung, die er unseren Vätern gegeben hat: ‹Er
zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind; er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen›
(Lukas 1,51-53). Und wir schämen uns, wenn wir uns bewusst werden, dass unser Lebensstil das verleugnet hat und verleugnet, was wir mit unserer Stimme aufsagen.»
Dass ein Papst die Hochmütigen und Mächtigen, die zu Fall gebracht werden müssen, nicht ausserhalb sondern innerhalb der Kirche ortet, das ist wohl einmalig in der Kirchengeschichte.
Franziskus ist aber nicht nur schonungslos ehrlich, sondern in der Analyse auch schonungslos scharfsinnig:
«Jedes Mal, wenn wir versucht haben, das Volk Gottes auszustechen, zum Schweigen zu bringen, zu übergehen oder auf kleine Eliten zu reduzieren, haben wir Gemeinschaften, Programme,
theologische Entscheidungen, Spiritualitäten und Strukturen ohne Wurzeln, ohne Gedächtnis, ohne Gesicht, ohne Körper und letztendlich ohne Leben geschaffen.
Das zeigt sich deutlich in einer anomalen Verständnisweise von Autorität in der Kirche – sehr verbreitet in zahlreichen Gemeinschaften, in denen sich Verhaltensweisen des sexuellen Missbrauchs
wie des Macht- und Gewissensmissbrauchs ereignet haben –, nämlich als Klerikalismus, jene Haltung, die ‹nicht nur die Persönlichkeit der Christen zunichte [macht], sondern dazu [neigt], die
Taufgnade zu mindern und unterzubewerten, die der Heilige Geist in das Herz unseres Volkes eingegossen hat›.
Der Klerikalismus, sei er nun von den Priestern selbst oder von den Laien gefördert, erzeugt eine Spaltung im Leib der Kirche, die dazu anstiftet und beiträgt, viele der Übel, die wir heute beklagen,
weiterlaufen zu lassen. Zum Missbrauch Nein zu sagen, heisst zu jeder Form von Klerikalismus mit Nachdruck Nein zu sagen.»
Es geht also um ungesunde Machtstrukturen. Es geht um «Mächtige auf dem Thron», die sich Sonderrechte anmassen. Die das «einfache Volk» von oben herab betrachten. Die dermassen
selbstgerecht sind, dass sie sich zugleich als Gesetzgeber und Richter sehen. Deren Ehrgeiz und Erfolgssucht jedes ihrer Mittel rechtfertigen. Um es in religiöser Sprache zusammenzufassen: Es
geht um Gottlosigkeit.
Die katholische Ausformung dieser Gottlosigkeit, dieses Hochmuts heisst Klerikalismus. Franziskus ortet Klerikalismus klugerweise nicht nur bei Priestern. Zudem verwendet er das Wort «Elite»
und macht damit deutlich, dass dieser Hochmut, der zu Unterdrückung und Missbrauch führt, in allen selbstherrlichen Machtstrukturen grassiert. Harvey Weinstein, Larry Nasser, Gerold Becker
stehen stellvertretend dafür. Ob es also um Missbräuche in der Film- und Theaterbranche, im amerikanischen Turnverband, an der Odenwaldschule und eben auch in der katholischen Kirche geht,
immer findet der Missbrauch seinen zerstörerischen Nährboden und seine unheilvollen Räume in elitären Zirkeln der Macht.
Papst Franziskus stellt zudem unmissverständlich klar: Nicht die Enthüllung der Skandale fügt der katholischen Kirche Schaden zu – der Schaden entsteht durch den Missbrauch, entsteht durch
Klerikalismus. Und für Franziskus ist dieser Missbrauch ein fundamentaler Verrat am Evangelium. Er zitiert deshalb seinen Vorgänger, der bereits 2005 – damals noch als Kardinal Joseph Ratzinger
– am Karfreitag gesagt hatte: «Wie viel Schmutz gibt es in der Kirche und gerade auch unter denen, die im Priestertum ihm ganz zugehören sollten? Wie viel Hochmut und Selbstherrlichkeit? Wie
wenig achten wir das Sakrament der Versöhnung, in dem er uns erwartet, um uns von unserem Fall aufzurichten? All das ist in seiner Passion gegenwärtig. Der Verrat der Jünger, der unwürdige
Empfang seines Leibes und Blutes, muss doch der tiefste Schmerz des Erlösers sein, der ihn mitten ins Herz trifft.»
Papst Franziskus wird selbst von seinen Unterstützern dafür kritisiert, dass er seine Mitarbeiter in der Kurie, im Bischofs- aber auch im Priesteramt immer wieder in aller Öffentlichkeit kritisiert.
Besonders heftig und spektakulär 2014 mit einer Liste von 15 katholischen Krankheiten.
Franziskus wird vorgeworfen, eine sensible Führung hätte diese Kritik intern angebracht. Mit Blick auf die Missbrauchsfälle wird verständlich, weshalb Franziskus direkt die Öffentlichkeit und damit
das «einfache Volk» sucht. «Intern» und «brüderlich» sind in klerikalen Strukturen faktisch Werkzeuge der Vertuschung.
Wenn Franziskus also öffentlich Kritik übt, dann ist das wohl auch ein Zeichen des Misstrauens der eigenen Organisation gegenüber, und es ist darüber hinaus ungeheuer mutig, weil er sich gegen
mächtige kirchliche Kreise stellt, die von ihm erwarten, dass er – bewusst oder unbewusst – ihr Schirmherr ist und sozusagen als oberste Vertuscher fungiert.
Die Umstände und der Zeitpunkt von Papst Benedikts Rücktritt legen nahe, dass bereits er sich bewusst wurde, dass genau diese Rolle von ihm erwartet wurde, und dass er nicht bereit war, diese
Rolle zu übernehmen.
Papst Franziskus geht nun noch weiter und stellt sich offen dem Kampf gegen diese klerikale Elite. Dafür nimmt er in Kauf, von diesen Kreisen bis in die Kurie hinein als Nestbeschmutzer
verunglimpft und heftig bekämpft zu werden. Und sei es nur, indem man ihn mit elitärer Süffisanz einen mittelmässigen Theologen nennt und schulmeisterlich belehrt.
Die öffentliche Kritik des Papstes am Klerikalismus innerhalb der katholischen Kirche ist also Ausdruck seiner Überzeugung, dass Gott auf der Seite der Ohnmächtigen und nicht auf der Seite der
Mächtigen steht. Er sieht sich den Menschen und nicht dem Apparat verpflichtet.
Die klare Haltung und das klare Wort des Papstes ist aber auch eine dringend notwendige Unterstützung für all jene Priester, die genau wie der Papst nicht zur klerikalen Elite gehören. Und es lässt
hoffen, dass er dabei in der kirchlichen Führung offenbar nicht ganz auf sich allein gestellt ist. Kardinal Sean Patrick O´Malley beispielsweise, Leiter der päpstlichen Kinderschutzkommission,
veröffentlichte fast zeitgleich mit dem Schreiben von Franziskus eine Videobotschaft. O'Malley lehnt darin die Vorstellung entschieden ab, dass weiterhin ausschliesslich Kleriker die verübten
Verbrechen aufarbeiten können, dass also das System einmal mehr selbst über sich richten könne. «Wir brauchen die Hilfe der Laien und ihr Engagement, um diese Geissel gegen unser Volk und
unsere Kirche anzugehen.»
Text: Thomas Binotto
Foto: Christoph Wider