Der Judas-Bruder
Der reformierte Pfarrer Thomas Muggli-Stokholm ist Träger des ökumenischen Predigtpreises 2017. Was als letztem Schweizer Kurt Marti für sein
Lebenswerk gelungen ist, erreichte er mit einer Karfreitagspredigt, einem Brief an Judas.
«Es ist für mich
fast leichter,
in einem anstössigen
Text das
Überraschende
zu finden.»
Thomas Muggli-Stokholm
Aufgestellt und beschwingt solle der Gottesdienst heute sein, sagt Pfarrer Thomas Muggli-Stokholm und begrüsst die Saxofonistin, den Bassisten
und den jungen Mann am Piano. In Bubikon im Zürcher Oberland, wo Muggli seit 1997 als Pfarrer wirkt, ist heute Jazzgottesdienst.
Dass auch die Texte der Bibel ihre aufrichtende Wirkung haben, ist Aufgabe von Pfarrer Muggli-Stokholm. Heute steht die Erzählung vom Zöllner Levi
im Mittelpunkt – und Mugglis Ansage, er werde in der Predigt versuchen
zu zeigen, was
Levi mit den heute Anwesenden zu tun habe. Die Klarheit in seiner
Stimme hat etwas Überzeugendes: Es gibt
einen direkten Bezug zwischen den alten Geschichten und den eigenen
Baustellen zu Beginn des Jahres 2018.
Was Pfarrer Muggli heute mit Levi versucht, hatte er am letzten
Karfreitag mit Judas gemacht, der
gemeinhin als Verräter gilt. Für seine Karfreitagspredigt 2017, einen Brief
an Judas, hat er den ökumenischen
Predigtpreis erhalten. «Es ist für mich fast leichter, in einem anstössigen
Text das Überraschende zu finden», sagt
der Pfarrer. Danach sei er auf der Suche, wenn er in der Vorbereitung
auf eine Predigt den Bibeltext von Hand
abschreibe und ihn wieder und wieder lese. Wenn Muggli-Stokholm dann
predigt, indem er einen persönlichen Brief
an Judas vorträgt, ist schon das überraschend.
«Judas – wie soll ich dich überhaupt anreden in meinem Brief?
Du Verräter! Du Feind Gottes! Du Satan in
Person!», fragt er Judas und auch die Zuhörenden zu Beginn. Er fragt
sie auf Schweizerdeutsch. Muggli-Stokholm
predigt im Dialekt, spricht mit den biblischen Personen in seiner
Muttersprache, fast als wären sie alte
Bekannte. Man kann
sich vorstellen, wie die
Aufmerksamkeit an jenem Karfreitag
greifbar war. Und
wohl auch das Interesse,
welche Botschaft im Leben des
offensichtlich
gescheiterten Judas stecken mag, der sich
zuletzt
auch noch das
Leben nahm.
«Die
Rückmeldungen
der Leute an diesem Tag haben mich
ermutigt,
diese Predigt
einzureichen », erinnert sich Muggli-
Stokholm. Dass er schliesslich gewonnen hat, ist für ihn vor allem ein
wertvolles Feedback für seine Arbeit, eine
neutrale Rückmeldung von Menschen, die sich in der Kunst der freien
Rede auskennen.
Vergeben wird der internationale Predigtpreis seit dem Jahr 2000 vom
VNR Verlag für die Deutsche Wirtschaft in
Bonn. Anliegen sei es, «dem Dialog zwischen Kirche, Wissenschaft,
Wirtschaft und Gesellschaft» zu dienen, wie
es auf der Website heisst.
Dort schreibt die Jury auch: «Der reformierte Pfarrer Thomas Muggli-
Stokholm schuf mit seiner
Karfreitagspredigt eine andere Sicht auf den Jünger Judas. Judas war
nicht allein am Tod Jesu schuldig. Sein
Verrat gehört zu der Passion Jesu wie das Urteil des Pilatus, die
aufgebrachte Menge Jerusalems und die
strengen jüdischen Priester seiner Zeit.»
Dem Pfarrer war es also gelungen, etwas Überraschendes zu finden,
selbst im anstössigen Text über den
Selbstmord des Judas: «Lieber Bruder Judas», so wolle er den
Gescheiterten anreden. Bruder, weil ihm in
der Geldgier, Enttäuschung, im Übereifer des Jüngers «keine
einzigartige, dämonische Bosheit»
begegne.
«Ich erkenne nur menschliche Schwächen, die ich bei mir selbst allzu gut
kenne. Und ich bin nicht der Einzige»,
predigt Muggli-Stokholm weiter. Mitten hinein hat er seine Gemeinde
damit geführt, in die Verwandtschaft mit
unseren Vorfahren der Bibel.
Er selbst scheut sich nicht, sich selbstkritisch und bescheiden in die
Reihe der Menschen zu stellen, die auch
heute Sünderinnen und Sünder seien. «Ich verstehe mich als Teil der Gemeinde. Meine Predigten sind ein Resultat der Auseinandersetzung mit den Menschen hier und mit der
Bibel. Da vermittle und übersetze ich», sagt Muggli-Stokholm, «ich möchte uns zum Weiterdenken bewegen.» Bewegt und beschwingt ist die Stimmung auch heute, als die
letzten Klänge der Jazzmusiker verhallt sind. Es ist nicht nur ihnen zu verdanken.
Veronika Jehle freie Mitarbeiterin
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