Mehr als ein Funktionsorgan
Gleichgültig wie nüchtern wir die Welt betrachten: Das Herz ist für uns weit mehr als ein Funktionsorgan. Es ist Zentrum des Lebens.
Wie sehr uns das Herz am Herzen liegt, zeigt
sich in unserer Umgangssprache und ihren
unzähligen Redewendungen. Diese
beschreiben das Herz seit jeher nicht sachlich
biologisch, sondern als Organ der Liebe.
Als Ort vielfältigster Emotionen von Angst bis Mut,
aber auch als Zentrum von Geist und
Verstand – für all das wird das Herz sprachlich und
optisch zum allgegenwärtigen Symbol.
Wir sehen das Herz als Ur-Motor des
Lebens. Und nur so konnte der Ausspruch des
kleinen Prinzen allseits akzeptiertes
Allgemeingut werden: «Man sieht nur mit dem
Herzen gut. Das Wesentliche ist für die
Augen unsichtbar.»
Damit greift Antoine de Saint-Exupéry
allerdings nicht nur den alltäglichen Sprachgebrauch
auf, er knüpft auch an eine lange jüdisch-
christliche Tradition an. Bereits im Alten Testament
kommt dem Herzen für die Liebe, aber
auch für die Erkenntnis herausragende Bedeutung
zu. Bei Jesus Sirach beispielsweise
steht: «Entscheidungsfähigkeit, Sprache und Augen,
Ohren und Herz hat
er (Gott) ihnen (den Menschen) gegeben, um zu
denken.»
Den entscheidenden
Akzent für das Christentum legt der Evangelist
Johannes:
«Am letzten Tag des Festes, dem grossen Tag,
stellte sich
Jesus hin und rief: ‹Wer Durst hat, komme zu mir
und es
trinke, wer an mich glaubt!› Wie die Schrift sagt:
Aus seinem Inneren werden Ströme von
lebendigem Wasser fliessen.»
Dieses Christusbild verbindet Johannes –
und mit ihm auch die Apostel – ganz
selbstverständlich mit dem Kreuzestod:
«Als sie aber zu Jesus kamen und sahen, dass er
schon tot war, zerschlugen sie ihm die
Beine nicht, sondern einer der Soldaten stiess mit
der Lanze in seine Seite und sogleich
floss Blut und Wasser heraus.»
Das Herz Jesu wird damit zur Quelle.
Und folgerichtig steckt auch im Wort «Credo» («Ich
glaube») das Herz: «Cor dare». Glaube
bedeutet also: sein Herz geben. Damit wird Glaube
sehr leibhaftig.
Papst Benedikt XVI. schrieb über die
Herz-Jesu-Frömmigkeit 1973: «Was hier neu
gefunden wurde, war freilich in Wahrheit
das Uralte und das Eigentliche: das Menschsein
Gottes in Jesus Christus. Und was hier
neu gefunden wurde, war die Leibhaftigkeit des
Menschen Jesus.»
Für einen Mystiker wie Heinrich Seuse, im
13. Jahrhundert war allerdings klar: Der Hingabe
des Gläubigen musste die Hingabe von
Jesus Christus vorangehen. Dieser gibt sein Herz,
damit die Gläubigen ihr Herz geben
können: «O Herr, dein liebeglühendes Herz muss
das meine in Liebe entzünden.» Die
Theologie des Herzens ist also eine Theologie des
Austauschs, des Dialogs, der
immerwährenden gegenseitigen Hingabe.
Durch alle Jahrhunderte vor und nach
Seuse gab es kaum einen Theologen, Mystiker,
Ordensgründer, kaum eine Theologin,
Mystikerin, Ordensgründerin, die sich nicht intensiv
in die Meditation dieser
«Herzensangelegenheit» vertieft hätten.
Mechthild von Magdeburg, Margareta
Maria Alacoque, Johanna Franziska von Chantal,
Anselm von Canterbury, Franz von Assisi,
Franz von Sales bis hin zu Charles de Foucauld
oder Teilhard de Chardin – sie alle und
noch viele mehr haben sich immer wieder in die
Symbolik und Strahlkraft des
Christusherzens vertieft.
Und alle haben sie im Grunde den ewig
gleichen Dreischritt immer wieder neu durchdacht,
durchfühlt und durchformt: vom Hören
und Erkennen des eigenen Herzens über die
Begegnung mit dem offenen Herzen von
Jesus Christus bis hin zum Eingang in das Herz der
Schöpfung, in das Herz Gottes.
So früh und weit verbreitet die Herz-Jesu-
Verehrung war, so spät wurde sie als offizieller
Bestandteil in die Liturgie aufgenommen.
Erst 1856 hat Papst Pius IX. das Hochfest
«Heiligstes Herz Jesu» eingeführt.
Gefeiert wird dieses bis heute am dritten Freitag
nach Pfingsten. Zudem wurde der erste
Freitag jedes Monats zum Herz-Jesu-Freitag. Und
der Juni gilt insgesamt als Herz-Jesu-
Monat.
Diese Offizialisierung der Herz-Jesu-
Verehrung war allerdings vor allem ein Mittel im
Kulturkampf. Mit katholischem Trotz
wollte man einer vermeintlich feindlichen, von
Modernisten entweihten Welt, entgegentreten. Weit entfernt von der vitalen und differenzierten Herz-Jesu-Theologie und -Mystik vergangener Jahrhunderte wurde nun auch
optisch ein ziemlich plakativer und letztlich eindimensionaler Gnadenstrahl gezeichnet, der sich vom Herzen Jesu auf die katholische Kirche und nur auf diese ergiesst. Herz-
Jesu-Verehrung als Mittel zur Ab- und Eingrenzung.
So ging beinahe vergessen, dass diese Verehrung in ihrer Tradition keineswegs eine katholische Exklusivität ist. Auch die reformierte Theologie hat sich in dieses Geheimnis
vertieft. Und in der Ostkirche ist das Herzensgebet seit den Kirchenvätern eine ungebrochene Tradition.
Mit dem Bestseller «Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers» wurde diese Meditationspraxis gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch in Westeuropa bekannt. Und
durch dieses Buch ist der 1943 geborene Schweizer Theologe und jungsche Psychologe Franz-Xaver Jans-Scheidegger bereits als 13-Jähriger auf das Herzensgebet
gestossen.
Die von ihm gegründete Weggemeinschaft «VIA CORDIS» im Haus St. Dorothea in Flüeli-Ranft beschreibt das Herzensgebet als «mantrischen Weg, das heisst ein
Herzenswort (beispielsweise ein Wort aus den heiligen Schriften, ein Gottesname, usw.) wird wiederholt, bis dieses Wiederholen in ein wortloses Gebet des Schweigens
hinein verklingt.» Und weiter: «Das Herzensgebet ist ein spiritueller Übungs- und Erfahrungsweg. Ziel ist es, in die eigene Wesensmitte zu kommen und den Urgrund allen
Seins zu entdecken. […] Es geht darum, alle Gedanken und Bilder loszulassen und ganz offen zu werden für den all-einen Seinsgrund. Diese Form des Gebets fördert das
Mitgefühl für die Menschen und für die ganze Schöpfung.»
Ziel ist also eine permanente Gebetshaltung im Alltag. Man könnte auch sagen: eine Einübung in Achtsamkeit. Das entspricht dem eindringlichen Aufruf des Apostels Paulus in
seinem 1. Brief an die Thessalonicher: «Freut euch zu jeder Zeit! Betet ohne Unterlass! Dankt für alles; denn das ist der Wille Gottes für euch in Christus Jesus.»
Zurück im Alltag und seiner Sprache drückt sich darin eine universelle Sehnsucht aus, eine ursprüngliche Liebesgeschichte: Wir
möchten ein Herz und eine
Seele mit dem Leben sein und werden.
Text: Thomas Binotto
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Gott und die Welt