Wenn die Kirche zum Mass aller Dinge wird, verfehlt sie ihre Aufgabe.
Jesus Christus sagt zu seinen Jüngern: «Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.»
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Kein Selbstzweck
In diesen Worten steckt, nicht bloss ein Versprechen –
beispielsweise für unsere Gottesdienste – darin steckt
auch eine Mahnung. Wir versammeln uns im Namen von Jesus
Christus, nicht im Namen der Kirche.
Wir wünschen jedem Kind, dass es in eine liebevolle Familie
hineingeboren wird. Wir wissen, wie wichtig eine
Familie für die Entwicklung eines Menschen ist. Und bis ins hohe
Alter hoffen wir auf unsere Familie als Ort der
Gemeinschaft, der Wertschätzung und der Solidarität.
Wenn Familien «zu gut» funktionieren, können sie allerdings
auch zum Hindernis werden. Dann wird aus der
Gemeinschaft ein Clan, aus der Wertschätzung werden Fesseln
und aus der Solidarität wird Selbstgenügsamkeit.
Solche geschlossenen Systeme sind jedoch lebensfeindlich.
Familien werden dann zu einem Kokon, der gar nicht
mehr auf Verwandlung abzielt und letztlich neues Leben
verhindert. Dann sind Kinder für den Fortbestand der
Familie und nicht für die Entfaltung von neuem Leben da. Und
wenn die Kinder erwachsen sind, wird von ihnen die
Gründung einer
Filiale des Clans
erwartet.
Familien,
die zum
Selbstzweck werden, stehen jedoch der Entfaltung des
Lebens im
Weg.
Deshalb sterben Adelsgeschlechter aus. Deshalb
beklagt
man
sich in Clans über Machtspiele. Deshalb wird das
Weihnachtsfest zur Last.
Wenn Jesus seine Jünger auffordert, ihre Familien zurückzulassen, dann ist das vor allem die Mahnung, Familien nicht mehr absolut zu sehen. Dann ist das die Aufforderung, den Kokon aufzubrechen und
sich zu verwandeln.
Genau dasselbe erwartet Jesus Christus aber auch von den Kirchen – nicht nur der katholischen. Wann immer die Jünger bestrebt waren, aus der Gemeinschaft mit Jesus eine geschlossene Gesellschaft zu
machen, hat er das vehement verhindert.
Wir glauben und feiern also nicht im Namen der Kirche, sondern wir versammeln uns im Namen von Jesus Christus. Er selbst ist die Ökumene. Er ist «der Weg und die Wahrheit und das Leben».
Drei Fragen an Sr. Text: Thomas Binotto
Der liebe Gott…
Auf den ersten Blick ist das Bild vom «lieben Gott» so
wunderbar fürsorglich. Wenn man es jedoch an das
Bild des «allmächtigen Gottes» koppelt – was tatsächlich sehr
häufig geschieht – dann droht es zu kippen. Und
vollends widersprüchlich wird es, wenn bei jedem Unglück
sogleich der liebende Gott und seine göttliche
Vorsehung ins Spiel gebracht werden. Dahinter steckt wohl der
Versuch, aus Unsicherheit und Angst ein
Beruhigungsmittel gegen die Verzweiflung zu verabreichen.
Der fromme Eifer kann sogar so weit gehen, dass er all jenen
den Glauben abspricht, die im Leiden nur ein
schreckliches Schicksal sehen. Damit werden Leidende auf
perverse Weise zu den Schuldigen ihres eigenen
Unglücks erklärt. Sie erscheinen als undankbare Menschen,
die nur deshalb so sehr leiden, weil sie zu wenig
glauben.
Die Bibel – besonders eindrücklich in ihren Psalmen – zeigt
uns jedoch immer wieder, dass zu unserer
Gottesbeziehung auch das Unverständnis gehört. Zu einer
reifen Spiritualität gehört das Ertragen der Gottferne,
das Aushalten der Verzweiflung, die Wahrnehmung der
Sinnleere. Der «liebe Gott» ist kein Garant für
Unverletzlichkeit. Er ist kein Ordnungshüter und auch kein
Wunderdoktor, sondern ein Fundament und eine
Hoffnung.
Mein «lieber Gott» ist deshalb oft ohnmächtig und scheinbar
unsichtbar. Er hält nicht alles umklammert. Seine
Liebe ist nicht der erdrückende Busen einer Matrone. Und weil
er mich freilässt, muss er zulassen, dass ich ihn nicht
spüre, obwohl er da ist. Mein Gott behandelt mich nicht wie ein
Claqueur in einem abgekarteten Spiel. Er ist auf mich
angewiesen. Das Bild eines Gottes, der stets alles im Griff hat
mit seiner Liebe und seiner Allmacht, dieses Bild
verleitet dazu, die eigene Verantwortung zu vernachlässigen.
Dabei wird übersehen, dass wir selbst den
Unterschied, die Veränderung, die Verbesserung, ausmachen
können. Wir selbst können das Wunder sein.
Der Preis, den ich für meinen Glauben an den lieben Gott
bezahlen muss, ist der, dass Gott nicht länger
allmächtig ist und ich ihn nicht in mein Schema pressen kann.
Und genau als ein solcher Gott hat er sich am Kreuz
offenbart. Als ein ohnmächtiger, hilfloser, verurteilter Gott, der in einem bitteren Paradox schreit: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!» Damit zitiert Jesus Christus ausgerechnet einen
Psalm, in dem Menschen mit dem lieben Gott ringen. Am Kreuz wird mit aller Deutlichkeit sichtbar, wofür sich Gott in seinem Dilemma entscheidet: für die Liebe und gegen die Allmacht. Damit öffnet sich
der Raum für jene Überraschung, die sich drei Tage später ereignet…
Text: Thomas Binotto
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