Schlussakt: Narrenschiff
Wenn Sie LGBT fliessend entschlüsseln können und sich dabei schon zünftig aufgeschlossen fühlen – freuen Sie sich nicht zu früh!
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Kryptosexuell
Im sexuellen Orientierungslauf für Fortgeschrittene gewinnt man mit LGBT noch keine Punkte: Pansexuell, omnisexuell, androsexuell, gynosexuell, autosexuell, demisexuell, grey-
asexuell und richtig asexuell, intersexuell, polysexuell, skoliosexuell, sapiosexuell, sogar heterosexuell – die Palette ist riesig und wächst täglich, damit sie dereinst jede
Eventualität abdecken kann. Selbst für Menschen, die sich mit jenem Geschlecht identifizieren, mit dem sie geboren wurden, gibt es ein Etikett: Sie sind cissexuell.
Anstatt riesige Tore mit ganz laschen Zutrittsregeln zu pflegen, bauen wir für jeden Menschen sein eigenes schmales Pförtchen, durch das möglichst nur er allein in seiner einsamen
Einzigartigkeit passt. Das nennen wir dann Diversität und betrachten es voll toleranter Selbstzufriedenheit.
Mir wäre ein möglichst schwammig definiertes Tor für alle Menschen viel lieber. Ich bin für Massengenderismus! Oder wenn es denn unbedingt sein muss für Frauen und Männer,
wobei ich nicht bis aufs Jota definieren mag, was denn nun eine Frau ist und was ein Mann. Ich persönlich würde davon sehr profitieren. Auf dem Papier bin ich zwar ein cissexueller
Hetero. Doch je nach Tageslaune fühle ich mich manchmal richtig schwul, dann wieder geht meine Anima voll mit mir durch. Manchmal pumpt sogar das Testosteron. Aber wenn ich
mich auf einem Ferienbild in Badehose sehe, werde ich schlagartig asexuell. Es gibt Männer, die auf mich erotisch wirken und Frauen, die das gar nicht tun. Ich müsste kapitulieren,
wenn ich von mir ein eindeutiges Mannsbild zeichnen müsste. Ich vermute, ich bin irgendwie Mann. Und auf mehr Definition habe ich einfach keine Lust.
Mich erinnert die
diversitäre Definitionswut an immer neue Spartengottesdienste, in denen am Ende alle ihre ganz persönlichen, perfekt auf sie
zugeschnittenen Liturgien pflegen. Nun muss man sich
auf nichts
mehr einlassen, was zunächst fremd erscheint. Wird
nicht
mehr aus seiner Selbstgewissheit aufgeschreckt.
Endlich
erstreckt sich die Toleranz nur noch auf jenen
Menschen, auf den es wirklich ankommt. Auch das eine
schmale Pforte, die direkt in die klar strukturierte
Einsamkeit führt.
Da will ich aber gerade als irgendwie katholischer
Irgendwie-Mann nicht hin. Ich geniesse das
chaotische Gemeinschaftsleben auf der weiten Wiese
einfach viel zu sehr.
Kolumnen
Work-Life-Balance steht für ein ausgewogenes
Verhältnis von Beruf- und Privatleben. Die
privaten Interessen mit den Anforderungen der
Arbeitswelt in ein gesundes Gleichgewicht zu
bringen, bedeutet Lebensqualität. Nur: So
einfach ist das nicht.
Forum: Alle sprechen von Work-Life-Balance,
aber keine kriegt sie hin, ist man versucht zu
sagen, wenn man die Zunahme an
stressbedingten Krankheiten sieht. Was läuft
schief in unserer Gesellschaft?
Raimondo Lettieri: Vielleicht wird ein Teil des
Problems bereits aus dem Wort Work-Life-
Balance ersichtlich: Leben und Arbeit als zwei
getrennte Bereiche wahrzunehmen, die in
Einklang gebracht werden müssen, ist ein
Widerspruch in sich. Arbeit ist ein Teil unseres
Lebens, nicht ein Antipode davon.
Aus der Realität der Paar- und
Familienberatung weiss ich: Wir alle wollen
zuviel.
Bei den meisten Paaren häufen sich spätestens
nach der Geburt des zweiten Kindes Themen
wie Stress und Erschöpfung und zunehmend
erwachen Sehnsüchte nach Entspannung und
nicht durchorganisierten Zeiträumen. Der
Druck, genügend finanzielle Mittel für den
Unterhalt der Familie zu beschaffen und verbindet sich mit einer immer grösser werdenden Individualisierung der Bedürfnisse, wo jedes Kind seine eigenen
Hobbys hat und die Mütter – äusserst selten sind es die Väter – damit beschäftigt sind, ihre Töchter und Söhne von einem Termin zum anderen zu fahren.
Früher war das Familienleben weit weniger durchorganisiert. Heute haben schon Kinder eine volle Agenda – und eine mit Büchern vollbepackte XXL-
Schultasche.
Objektiv gesehen haben wir heute soviel Zeit wie nie zuvor. Und trotzdem fehlt sie uns ständig
Verglichen mit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben wir heute wirklich viel kürzere Arbeitszeiten – und die Lebenserwartung ist höher. Doch sind
der Druck und die Erwartungen in der Arbeitswelt, aber auch in der Schule deutlich gestiegen. Unser Alltag hat sich verdichtet. Der Job fordert uns 100
Prozent – und auf der Heimfahrt im Tram checken wir noch unsere Mails oder telefonieren. Wir sind da und gleichzeitig dort. Die technischen Möglichkeiten
und die Individualisierung der Bedürfnisse steigern sich gegenseitig in die Höhe. Dabei ist die
Arbeitswelt nur das eine. Das andere ist
die Freizeit, die maximiert werden muss, und die übersteigerten Erwartungen, die wir an unsere
Beziehung, an unser Glück, an die
Gesundheit, an unseren Körper, seine Ästetik und Fitness haben. Kaum ein Bereich mehr ohne Druck
und Stress.
Nutzlose Zeit, einfach mal Abhängen ist zutiefst suspekt geworden.