Soll ich meine Eltern ehren?
«Wieso die Eltern? Die Kinder soll man ehren!» Für unseren jüngeren Sohn ist die Sache klar: Die Frage ist falsch gestellt. Aus seiner
Perspektive kann ich das ab solut nachvollziehen.
Die Schwächeren der
Gemeinschaft sollen geehrt werden. Ihnen gebührt besondere Fürsorge und Respekt. In der
Lebenswelt eines Achtjährigen
mögen das die Kinder sein. Im Lebenskontext der Zehn Gebote sind es hingegen die
Ältesten des Clans. Bei den
Kindern brauchte es wohl kein Gebot: Es ist zu offensichtlich, dass die Zukunft von
ihnen abhängt. Bei den Älteren
scheint die Sache weniger klar. Die Erinnerung drängt sich auf: Auch wenn du jetzt
noch voll im Saft bist, wirst du
später selbst alt und schutzbedürftig sein. Das biblische Gebot ist an Erwachsene
adressiert. Es hat die ganze
Gemeinschaft und das Wohlergehen aller im Blick. In der Gegenwart wie auch in der
Zukunft: «Ehre deinen Vater und
deine Mutter, damit du lange lebst in dem Land, das dein Gott dir gibt!» (Buch
Exodus
20,12) Heute
ist die Altersfürsorge innerhalb der Familie weniger stark im Fokus, zumindest in
unseren
Breitengraden. Welchen Wert hat es
heute
noch, die Eltern zu ehren?
Zunächst
fühlt es sich für mich
natürlich
an, jene Menschen zu achten, die meine Existenz ermöglicht und mich ins
Leben
geführt haben. Ich hüte mich aber davor, dies leichtfertig zu
verallgemeinern. Bei zerstörerischer Beziehung, wenn Kinder unter ihren
Eltern
leiden, kann das Gebot wie ein Hohn klingen. Dieser Fall ist im Gebot nicht
mitbedacht. Es entwirft vielmehr eine Welt voller warmer, menschlicher
Beziehungen. Respekt gilt in alle Richtungen: den Eltern, Kindern, Verwandten,
Angestellten, Fremden … Wenn alle sorgsam miteinander umgehen, geht es allen gut.
Genügt dieser allgemeine Respekt oder gibt es eine moralische Verpflichtung den
eigenen Eltern gegenüber? Sind wir unseren Eltern etwas schuldig, weil wir ihnen das
eigene Leben verdanken? Die Philosophin Barbara Bleisch beantwortet diese Frage in
ihrem Buch «Warum wir unseren Eltern nichts schulden» mit einem klaren Nein. Ich
mache die Probe aufs Exempel und frage unseren älteren Sohn nach seiner Meinung:
«Sicher nicht!», ruft er empört, «das habt ja ihr entschieden – ohne mich zu
fragen!» Nach kurzem Überlegen schiebt er nach: «Ist es eigentlich strafbar, Kinder
auf die Welt zu bringen?»
Ich kann mir ein Lachen nicht verkneifen. Die Vorstellung, ein Ungeborenes – stark
eingeschränkt an Sinneswahrnehmung, Denken und Kommunikationsmöglichkeit – nach seiner
Meinung zu fragen, ist absurd. Wegen Unterlassung dafür bestraft zu werden, fast schon
skurril. Wobei es solche Klagen vor Gericht tatsächlich gibt. Natürlich bin ich mit ihm
einig,
dass
wir ungefragt auf die Welt geworfen werden. Mit dem Fakt der eigenen Existenz werden wir
konfrontiert.
Bei mir löst dieser
Fakt immer wieder tiefgreifendes Staunen aus. Insbesondere an Geburtstagen erinnere ich mich daran,
wie unverdient, heilig und verletzlich Leben ist. Ich habe nichts zu meiner eigenen Existenz beigetragen. Das waren andere. Bei
anderen wiederum war ich beteiligt, sie selbst jedoch nicht. Als Menschen sind wir aufeinander verwiesen. Am Anfang des Lebens zeigt
es sich in seiner ganzen Dichte. Nur schon deswegen ist es mehr als an gemessen, sich gegenseitig zu achten. Mirjam Duff Theologin,
Dozentin und Beraterin
Mirjam Duff Theologin, Dozentin und Beraterin an der Fachhochschule Nordwestschweiz