Ostern muss warten
Wer in der Schweizer Mediendatenbank «Nawalny» und «Märtyrer» in die Suchmaske eingibt,
erntet knapp 100 Treffer.
Der russische Politiker, der es wagte, Präsident Wladimir Putin herauszufordern, ist am 16.
Februar in einem sibirischen Straflager gestorben. Er stand absurde Gerichtsprozesse durch und
erlitt ständige Verschärfungen der Haftbedingungen. Viele Zeichen deuten darauf hin, dass
Nawalny zuletzt in seiner Unbeugsamkeit einen gewaltsamen Tod starb.
Der Märtyrerbegriff ist belastet. Er wurde durch einen Kult pervertiert, der Mörder feiert, die
aus ideologischer Verblendung unzählige Menschen mit sich reißen. Um das Wort von
Kontaminationen zu befreien, lohnt sich ein Blick in die Passionsgeschichte. Das Martyrium im
altkirchlichen Verständnis sei dadurch definiert, «dass der Märtyrer keine Gewalt ausübt und
den Tod nicht aktiv sucht», sagte der Theo loge Hans Weder einmal.
Nawalny wollte Russland verändern. «Mit seinem Leben und mit seinem Tod hat Alexei
bezeugt, wie christliche Werte Grundlage politischer Handlungen sein können», schreibt der
russische Publizist und Kirchenkenner Yvan Petrov, der seinen richtigen Namen aus Sicherheitsgründen für sich behalten will, in einem Gastbeitrag für «reformiert.».
Für Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde wollte Nawalny nicht sterben, er hat dafür gelebt. Genauso wie die Frauen und Männer in Iran, die ihren Kampf für die
Freiheit mit dem Leben bezahlten, frei und nicht tot sein wollten. Die mutigen Aktivistinnen und Aktivisten, die sich dem stalinistischen Regime von Belarus
entgegenstellten, die jungen Menschen, die in Hongkong gegen die chinesische Übermacht auf die Straße gingen, suchten Freiheit und Würde, nicht Folter und
Gefangenschaft.
Eine gewisse Scheu im Umgang mit Martyrium bleibt auch nach der Präzisierung angebracht. Allzu schnell verleiht die Rede von der Aufopferung dem gewaltsamen Tod
einen Sinn, überhöht das Leid. Zuerst einmal ist jeder Tod, den die Märtyrerinnen und Märtyrer sterben, falsch.
Ich glaube fest daran, dass auch Jesus nicht sterben wollte. Er wollte leben. Mit seiner Botschaft, seinem Zeugnis, seiner Hingabe, die über das eigene Leben hinaus ging,
wollte er die Menschen und die Welt zum Guten verändern. Es gelang ihm, weil ihm Menschen nachfolgten und sich in den Dienst jener Kraft stellten, die Frieden stiftet
und das Lebendige fördert.
Wenn Gott in Christus tatsächlich Mensch geworden ist, so hat er selbst die Sinnlosigkeit der Gewalt, die Wehrlosigkeit des Opfers und Abgründe der Willkür
durchlitten. Das Kreuz ist somit auch ein Protest gegen die Sinnlosigkeit des Foltertods, den Skandal der Gewalt. Die Trauer und Empörung darüber, diesen dunklen
Karfreitag, gilt es auszuhalten. Ostern muss warten.
Felix Reich Redaktionsleiter