Narrenschiff
Lass das Prophezeien!
Prophezeiungen sind etwas vom Nutzlosesten, was
ich mir vorstellen kann.
Ein Nullsummenspiel mit maximalem Aufwand an
Rechthaberei und minimalem Output an
Wirkung.
Ich beginne meine Beweisführung im überschaubar
familiären Kreis: Gibt es Eltern, die mit ihren
Prophezeiungen von ihren Kindern ernst genommen
werden? – Bitte vortreten! – Es bleibt
verdächtig ruhig im Rund, also vermute ich, es geht
den allermeisten Erziehungsberechtigten, so
wie es mir ergangen ist, als ich noch praktizierender
Vater war.
Ich hab’s mit herrischer Autorität versucht, mit
filigraner Argumentation, mit jovialem
Schulterklopfen, mit triefendem Mitgefühl,
vollkommen egal: auf meine Prophezeiungen
hat keines meiner Kinder je etwas gegeben.
«Wenn du dich nicht endlich reinkniest, wird das
nichts mit der genügenden Note!» – «Mach
bitte nicht den gleichen Fehler wie ich.» – «Komm
dich ja nicht hinterher bei mir ausheulen.»
Ob mit Engelsgeduld oder mit Donnergrollen vorgetragen: Prophezeiungen sind Makulatur. Die Welt will sich ums Verrecken nicht von Prophezeiungen leiten lassen. Sie
sind damit das Gegenstück zu verbotenen Türen. Wenn in einer Geschichte eine Tür auftaucht, die unter keinen Umständen geöffnet werden darf, dann wird sie aber
mit Garantie aufgetan. Und wenn die Prophezeiung einen Weg vorzeigt, dann wird dieser ebenso garantiert nicht begangen.
Pandora öffnet die Büchse allen Übels praktisch bei erstschlechtester Gelegenheit. Und Kassandra sagt den Sturz Trojas voraus, ohne damit auch nur das Geringste zu
bewirken. Sie hätte ebenso gut schweigen können. Genauso wirkungslos verhallen im Normalfall biblische Prophezeiungen.
Keiner hat sich über das Prophezeien so masslos geärgert wie der Prophet Jona. Zunächst zieht er im göttlichen Auftrag 40 Tage lang durch Ninive und prophezeit
dem ortsansässigen Sündenpack den baldigen Untergang. Und für einmal, tatsächlich: Die Menschen gehen in sich und kehren um. Also will Gott seine Prophezeiung nun
doch nicht wahr machen. Daraufhin hockt sich Jona auf einen Hügel vor der Stadt. Mit gutem Blick auf den ehemaligen Sündenpfuhl natürlich. Und hier lässt er seiner
miesen Laune freien Lauf. Lästert hemmungslos über die Städter, die verfluchten, und über seinen Herrn, den rückgratlosen. Wahrscheinlich erfindet Jona in diesem
Moment das nicht überlieferte Schimpfwort «Gutgott».
Und was gibt’s in all diesem Prophetenjammer zu lernen? Mit dem Triumphgeheul «Ich hab’s ja immer gesagt!» ist niemandem geholfen und mit sturer Rechthaberei
auch nicht. Ich will’s nicht gleich verschreien, aber mehr Samariter und weniger Propheten scheint mir der zukunftsträchtigere Weg.
Text: Thomas Binotto
Wie verhält sich die russisch-orthodoxe Kirche in diesem Bruderkrieg?
Der Nachrichtendienst Östliche Kirchen berichtet, dass rund 200 Priester und Diakone der russisch-orthodoxen Kirche in einem offenen Brief eine
sofortige Waffenruhe in der Ukraine gefordert haben. «Mit Blick auf die gottgegebene Freiheit des Menschen erklären die Geistlichen, das
ukrainische Volk müsse seine Wahl selbst treffen, nicht im Visier von Waffen und ohne Druck des Westens oder des Ostens.» In einer Petition wird
Patriarch Kyrill aufgefordert, Metropolit Onufrij von der ukrainisch-orthodoxen Kirche (es gibt drei verschiedene orthodoxe Kirchen in der Ukraine)
zu erhören und den Aggressor Russland beim Namen zu nennen. Wie Onufrij solle auch Kyrill den russischen Präsidenten Putin auffordern, das
«kriminelle, militärische Eindringen in den souveränen Staat Ukraine zu beenden». Die Petition wurde von rund 450 Personen unterzeichnet. Ich glaube,
dass die fehlende Einheit, ja das Gegeneinander der Christen und Kirchen letztlich die Ursache von all dem ist, was wir erleben.
Robert Greisser, Rüschli