«Von startenden Flugzeugen bis zum tickenden Wecker, von der Stimme Gottes über das
Glockengeläut bis zur Stille in der Meditation, Sieglinde Geisel erforscht das ambivalente
Verhältnis der Menschen zu den Geräuschen ihrer Umwelt. »
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Fehlalarm im Kopf
Sr. Maria-Amadea
Kloster Heiligkreuz, Cham
49, Kirchenmusikerin (Orgel B) und Komponistin
Nirgends ist man sicher vor dem Lärm.
Wohin man sich auch flüchtet und hinter welche
Mauern man sich verschanzt – die
Schallwellen finden uns überall, und ein einziger
Motorradfahrer genügt, um ein ganzes
Quartier mit seinem Schall zu behelligen. Andererseits
wiederum sind vor dem Lärm alle gleich.
Der Schall verschont niemanden, der Ohren hat. Lärm
macht nervös, unglücklich und krank, und
es gibt kaum jemanden, der sich nicht über Lärm
beklagen würde. Und doch ist er kein
Debattenthema. Er tritt nur dann ins öffentliche
Bewusstsein, wenn sich der Schallpegel
plötzlich verändert, beispielsweise durch eine
Flugschneise oder eine neue Autobahn.
Das Ohr sei das einzige Organ auf dem
Feld des Unbewussten, sagt der Psychoanalytiker
Jacques Lacan. Vieles hören wir, ohne
dass es uns bewusst wird – und das ist gut so, denn
wer in freier Wildbahn auf ungewohnte
Geräusche nicht schneller reagiert, als er denken
kann, hat schlechte Überlebenschancen.
Das Ohr ist unser wichtigstes Alarmorgan, wie
übrigens schon das Wort «Lärm» verrät.
Es kommt von Alarm, dem italienischen Schlachtruf
«all’arme!», zu den Waffen! Und diese
Alarmfunktion ist es, die uns den Lärm zur Qual
macht, denn in unserem zivilisierten
Alltag herrscht pausenloser Fehlalarm. Startende
Flugzeuge, tickende Wecker,
quietschende Strassenbahnen und das gedämpfte
Gemurmel aus dem Fernseher der
Nachbarwohnung gehen uns unendlich auf die
Nerven, denn unser vegetatives
Nervensystem hat die Tendenz, auf diese Geräusche
zu reagieren, als ginge es um Leben und
Tod.
Obwohl der archaische Mechanismus
immer der gleiche ist, leidet jeder Mensch anders
unter Lärm. Vor allem die Geräusche, die
unseren Adrenalinspiegel hochjagen, sind ganz
unterschiedlich. Denn ein Geräusch allein
macht noch keinen Lärm. Dieser entsteht erst in
unserem Kopf, und damit sind wir Teil des
Problems. Unser Innenleben ist ständig in Bewegung,
und so ändert sich unsere
Lärmempfindlichkeit die ganze Zeit. Wenn wir uns
über etwas freuen, dann sind wir nicht
nur tolerant gegenüber Lärm, sondern wir machen ihn
vielleicht sogar selbst. Wenn wir uns dagegen schwach fühlen, ist uns jeder Lärm zu viel.
«Blosses Geräusch»
Wir glauben oft, die Welt sei nie so laut gewesen wie heute, doch wir können uns trösten: Auch in früheren Zeiten haben die Menschen unter Lärm gelitten. Der römische Philosoph Seneca etwa
wollte herausfinden, ob man zum Denken wirklich Ruhe braucht, und dazu unternahm er einen Selbstversuch im lärmigen Kurort Baiae. Er kam dabei zu zwei Erkenntnissen: Zum einen stören
Geräusche, die sich ständig ändern, das Denken stärker als gleichbleibende Geräusche, und zum anderen sei die menschliche Stimme für die Konzentration gefährlicher als «blosses Geräusch».
Unter «blossem Geräusch» versteht Seneca jeden Schall, der nur als Nebenprodukt einer anderen Tätigkeit entsteht. Die menschliche Stimme jedoch ist kein unvermeidliches Nebenprodukt,
sondern beabsichtigter Selbstzweck. Man redet, will sich mitteilen, Aufmerksamkeit erregen – dabei könnte man ebenso gut den Mund halten.
Was Seneca über die menschliche Stimme sagt, gilt auch für alle anderen Geräusche, die der Mensch verursacht. Denn praktisch alles, was der Mensch tut, macht Lärm. Wir ertragen den Lärm
der Anderen und behelligen wiederum die Anderen mit unserem eigenen Lärm. «Geräusch anhören ist: an fremdem Leben teilnehmen», schreibt Kurt Tucholsky, einer der grossen
Lärmleidenden. Man kann es auch umgekehrt formulieren: Miteinander leben heisst, fremde Geräusche anhören.
Deshalb führt die Frage nach dem Lärm rasch zur Frage nach den Menschen, die gemeinsam in einem Schallbereich leben. Ob uns die Geräusche des Anderen stören, entscheidet sich zu
einem grossen Teil daran, welche Haltung wir zu diesem Menschen haben, denn im Allgemeinen gehen uns die Geräusche in der gleichen Weise und Intensität auf die Nerven wie ihr
Verursacher. Wenn der Nachbar in den Ferien unsere Blumen giesst und wenn wir wissen, dass wir mit unserer Lärmklage notfalls auf ein offenes Ohr stossen, ertragen wir den Partylärm zum
Geburtstag viel leichter, als wenn wir keinen Kontakt zu ihm haben und uns schon immer darüber geärgert haben, dass er seinen Müll im Treppenhaus stehen lässt.
Politisches Phänomen
Doch Lärm ist nicht nur ein Beziehungsdelikt. Er ist ein politisches Phänomen, doch interessanterweise ist uns gerade dieser Aspekt am wenigsten bewusst. An der Frage, wer wen mit seinem
Schall belästigen darf, lässt sich das Machtgefüge einer Gesellschaft ablesen: Wer Macht hat, darf laut sein, und wer laut ist, nimmt für sich Macht in Anspruch. Das bedeutet, dass der Schall der
Mächtigen kein Lärm ist. Lärm kommt immer von unten. Die Boombox der Jugendlichen im Park, das Gegröle der Trinker in der Strasse, die Kinder mit ihrem Geschrei – das sind lauter Schall-
Emmissionen, die wir meinen, nicht hinnehmen zu müssen, denn die Verursacher stehen in der Hierarchie der Gesellschaft ganz unten; sie haben buchstäblich nichts zu melden. Ihr Schall
alarmiert uns, denn auch im akustischen Raum gelten die Prinzipien des Territorialverhaltens.
Bei Lärmkonflikten geht es nie nur um eine akustische Störung, sondern um Machtkämpfe, um Invasion und Verteidigung. Der Teenager, der in seinem Zimmer die Musik aufdreht, zeigt damit,
dass die Eltern ihm nichts mehr zu sagen haben. Wenn offensiver Lärm von gesellschaftlichen Underdogs ausgeht, kommt er oft einer Kriegserklärung gleich. Wer die Jugendlichen in der S-
Bahn auffordert, ihren Handy-Lautsprecher auszuschalten, macht ihnen die Macht streitig, auf die sie mit der lauten Musik provozierend Anspruch erheben, und entsprechend ist mit
Gewaltbereitschaft zu rechnen.
Den Schall der Mächtigen dagegen nimmt man nicht als Lärm wahr. Weil er die herrschende Ordnung bestätigt, kann er uns nicht alarmieren. Gehorchen kommt nicht zufällig von Hören. Früher
erhoben die Männer am Tisch die Stimme, während die Frauen zu schweigen hatten, und dem Dienstpersonal wurde ohnehin kein Rederecht zugestanden, solange die Herrschaft in Hörweite
war. Gegenüber Naturphänomenen sind wir machtlos, trotz aller technischen Errungenschaften, deshalb wird niemand je auf den Gedanken kommen, bei einem Gewitter den Donner als Lärm zu
bezeichnen, selbst dann nicht, wenn uns das Krachen aus dem Schlaf reisst. Wen wundert es daher, dass in der Mythologie der Mächtigste der Götter auch die Macht über den Donner hat? An
diese Macht kann kein Mensch je rühren. Ganz allgemein bedient sich die Autorität dort, wo sie sich durchsetzt, nicht sichtbarer Zeichen, sondern des Schalls. Der Gott des Alten Testaments ist
unsichtbar. Er teilt sich dem Volk Israel nur über seine Stimme mit: Wenn diese ertönt, verstummen die Menschen ganz von allein.
Autorität gleich Lärmlizenz
Bis vor nicht allzu langer Zeit waren auch die Kirchenglocken ein Zeichen religiöser Autorität und damit unangefochten. Früheren Generationen wäre es nie eingefallen, das Glockengeläut als
Lärm zu beklagen. Heute jedoch gibt es kaum mehr eine Kirchengemeinde, die sich nicht mit Protesten gegen das sonntägliche Kirchengeläut konfrontiert sieht. Dabei hat sich nicht das
Glockengeläut geändert, sondern die gesellschaftliche Stellung der Kirche. Mit ihrer Autorität hat sie auch ihre Lärmlizenz eingebüsst. Wer nicht zum Kreis der Gläubigen gehört, sieht keinen
Grund, sich dem Schall der Kirche zu unterwerfen. Aus der Sicht derjenigen, die am Sonntag ausschlafen wollen, ist das Glockengeläut zu einem ganz profanen, störenden, sinnlosen Lärm
geworden.
Ob die Welt tatsächlich immer lauter wird, wissen wir nicht, denn wir haben keine Lärmkarten aus früherer Zeit. Vielleicht ist es eher umgekehrt: Nicht der Lärm, sondern die Sehnsucht nach Stille
war noch nie so gross wie heute. Dabei wissen wir über die Stille noch weniger als über den Lärm. Wir haben die Stille-Rituale aufgegeben, die in jeder traditionellen Kultur selbstverständlich
waren. Die Mahlzeiten sind uns als Ressource von Ruhe ebenso wenig heilig wie die Nachtruhe, von der stillen Einkehr im Gebet ganz zu schweigen. Begegnen wir der Stille doch einmal,
geraten wir leicht in Panik. Seltsamerweise braucht Meditieren Mut: Sich auch nur für zwanzig Minuten den äusseren Reizen zu entziehen und still zu sitzen, erscheint als Zumutung. «Wir hätten
den Lärm nicht, wenn wir ihn nicht heimlich wollten», schreibt Carl Gustav Jung in den 1950er-Jahren in einem Brief an die Schweizerische Liga gegen den Lärm. Er kannte die Seele gut genug,
um zu wissen, dass Stille nichts Harmloses ist. Einerseits erinnert sie uns an den Tod. Andererseits bricht in unserem Inneren der Lärm erst richtig los, sobald wir still werden, denn nun ist das
Unbewusste nicht mehr damit beschäftigt, die Geräusche zu filtern, und die Bahn ist frei für alles, was sonst vom äusseren Lärm übertönt wird.
Die Kräfte, die uns von der Stille ablenken, sind stark und verführerisch. Seitdem die Technik uns die pausenlose Versorgung mit Schall möglich macht, sind wir danach süchtig. Die
Hintergrundmusik ist heute derjenige Lärm, dem man am wenigsten entkommt. Doch genau das wollen wir auch. Immer mehr Menschen sorgen durch Ohrstöpsel dafür, dass sie aus der
Betäubung durch Musik möglichst gar nicht mehr aufwachen. Jeder lebt in der lärmigen Ruhe seines akustischen Privatzimmers vor sich hin, als gäbe es sonst niemanden, doch damit hört der
öffentliche Raum auf zu existieren. Wir handeln nicht mehr aus, wer im gemeinsamen Schallraum zu bestimmen hat, sondern parzellieren ihn, um Ruhe voreinander zu haben – und vor uns
selbst. Denn wer seine Ohren durch permanente Beschallung beschäftigt hält, muss sich weder mit fremdem Geräusch herumschlagen, noch muss er auf das hören, was sich ungebeten in
seinem Inneren meldet.
Text: Sieglinde Geiselweiter