«Der Jesuit Klaus Mertes ist ein renommierter Fachmann, wenn es um kirchlichen
Missbrauch geht. Ein Gespräch aus Anlass der Missbrauchs-Konferenz im Vatikan.»
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Der Missbrauch und seine Wurzeln
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Sr. Maria-Amadea
Kloster Heiligkreuz, Cham
49, Kirchenmusikerin (Orgel B) und Komponistin
Im Januar 2010 schrieb Klaus
Mertes (64) einen Brief, der sein Leben und seine Arbeit bis heute prägen sollte. Der
Jesuit war damals Rektor des
Canisius-Kollegs in Berlin. Ihm hatten sich ehemalige Schüler im vertraulichen
Gespräch als Missbrauchsopfer
offenbart. Deshalb schrieb er an rund 600 Ehemalige des Canisius-Kollegs einen
Brief, um das Schweigen
endlich zu brechen und die Vertuschung zu beenden. Damit nahm die Aufarbeitung
von Missbrauchsfällen in der
katholischen Kirche in Deutschland neue Dimensionen an.
Heute ist Klaus Mertes Direktor
des Kollegs St. Blasien im Schwarzwald. Er gehört inzwischen zu den
renommiertesten Experten,
wenn es um das Thema «Missbrauch» geht. Darunter versteht er heute neben
sexuellem auch geistlichen
Missbrauch. Und er ist der Überzeugung, dass die Wurzeln des Missbrauchs auch in
der Struktur der katholischen
Kirche liegen. Eine Veränderung dieser Strukturen hat er jüngst zusammen mit acht
weiteren Persönlichkeiten in
einem offenen Brief an den Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal
Reinhard Marx, angemahnt.
Klaus Mertes, obwohl Sie vor
neun Jahren dazu beigetragen haben, Missbrauchsopfern zu ihrem Recht zu
verhelfen, werden sie von
manchen kirchlichen Kreisen immer noch als Nestbeschmutzer beschimpft. Macht
sie das nicht zornig?
Ja. Aber wenn man mit Aufklärung ernst macht, löst das zwangsläufig ganz unterschiedliche Wellen aus. Mir wurde und wird vorgeworfen, ein Nestbeschmutzer zu sein, man versucht mich
zu instrumentalisieren, es gibt Trittbrettfahrer, Übergriffe aus der Öffentlichkeit, auch gelegentlich von Opfern. Da kommt ein ziemliches Panoptikum zusammen. Aber ich kann mich auch
darüber freuen, dass sich etwas bewegt.
Und was hat sich denn in der Kirche bewegt?
Meines Erachtens sehr viel. Ich spreche jetzt von der katholischen Kirche in Deutschland, die ich am besten kenne. Im Bereich der Aufklärung hat sich viel getan. Es ist beachtlich, wie viele
ernst zu nehmende Studien inzwischen vorliegen. Das sind wichtige Schritte in der Aufarbeitung.
…und im Opferschutz?
Auch in der Beziehung zu den Opfern ist viel geschehen, was aber nicht so leicht darzustellen ist, weil es da verständlicherweise ein grosses Bedürfnis nach Diskretion gibt.
Sehr viel ist im Bereich der Prävention geleistet worden. Die kirchlichen Institutionen haben sich verändert, und zwar nicht nur, was Äusserlichkeiten betrifft. Es geht ja nicht nur um
Unterschriften unter Selbstverpflichtungserklärungen und Abarbeiten von Fortbildungen. Die ganze pädagogische Grundstimmung wandelt sich. Man sorgt sich viel gezielter um das, was wir
eine Kultur der Achtsamkeit nennen.
Ich habe kürzlich mit einer Frau gesprochen, die einer nichtkirchlichen Opferschutzorganisation angehört. Sie hat mir berichtet, dass die Türen bei kirchlichen Schulen aufgehen, wenn sie mit
einem Missbrauchsthema an diese herantritt, während die Türen in staatlichen Institutionen meist verschlossen bleiben.
Aber bei allem, was sich verändert hat, gibt es selbstverständlich immer noch viel aufzuarbeiten.
Wo speziell?
Im Laufe der letzten Jahre bin ich über den sexuellen Missbrauch hinaus auf neue Missbrauchsfälle gestossen, die nicht notwendig mit sexueller Gewalt verbunden sind. Ich fasse diese
unter geistlichem Missbrauch zusammen. Auch bei diesem Machtmissbrauch packt mich die blanke Wut.
Weshalb ist es so wichtig, nun auch von geistlichem Missbrauch zu sprechen?
Zunächst einmal ist der Begriff des sexuellen Missbrauchs unpräzise. Wir müssen von sexualisierter Gewalt sprechen. Im Kern geht es nicht um Sexualität, sondern um Macht .
Missbrauchstäter haben gewiss ein Problem mit Sexualität, sie haben aber insbesondere ein Problem mit Macht und den Möglichkeiten, die sich daraus ergeben. Und das hat sehr oft zu tun
mit ihrer narzisstischen Persönlichkeitsstruktur. Es geht also um mehr als um Sexualität.
Deshalb spreche ich inzwischen auch vom geistlichen Missbrauch. Menschen, die in geistlichen Gemeinschaften zu Opfern wurden, haben mir erzählt, wie der geistliche Missbrauch ihre
Persönlichkeit vernichtet hat, selbst dann wenn er nicht mit sexuellem Missbrauch verbunden war.
Für dieses Leiden steht exemplarisch der Bericht, den Doris Wagner mit «Nicht mehr ich» vorlegt. Geistlicher Missbrauch bedeutet Isolierung, totalitäre Kontrolle, Sklavenarbeit,
Erniedrigung, Demütigung, und er kann Menschen bis in den Suizid treiben. Ich kann Wagners Erfahrung aus meinen Begegnungen mit Opfern aus anderen vergleichbaren kirchlichen
Gruppen nur bestätigen.
Noch immer gibt es Bischöfe, die das Thema – zurückhaltend formuliert – unbedarft angehen. Gerade hat in der Schweiz ein Fall in Riehen für Aufsehen gesorgt, weil der Bischof von Basel
es zuliess, dass ein vorbestrafter pädophiler Priester für das Pfarreramt kandidieren durfte.
Ich kenne diesen konkreten Fall nicht. Aber ich kenne vergleichbare Fälle aus Deutschland und ich kann ganz allgemein sagen: Solche Fälle sind nicht nur für die Opfer verheerend, sondern
auch für die vielen in der Kirche, die gegen solche Zustände aufstehen und tagtäglich auf der mittleren Ebene hervorragende Arbeit leisten. Das alles wird durch solches Verhalten
diskreditiert. Und schon entsteht in der Öffentlichkeit wieder der Eindruck: «Es tut sich nichts in der katholischen Kirche!»
Wenn sich kirchliches Handeln wieder oder immer noch in den alten Schemata bewegt, dann schadet das all den Bemühungen um eine Kultur der Achtsamkeit. Und das wiederum ermüdet
und verärgert all jene, die in sich in der Kirche gerade in pädagogischen und sozialen Bereichen darum bemühen.
Der Bischof von Basel hat unter anderem damit argumentiert, dass er dem Täter eine Chance zur Wiedereingliederung geben wollte. Was halten Sie vom Argument der «zweiten Chance»?
Diese Argumentation erstaunt mich immer wieder aufs Neue. Was bedeutet bei Missbrauch die «zweite Chance»? Bislang gab die zweite Chance den Tätern vor allem die Gelegenheit, mit
ihrem Treiben weiter zu machen.
Wenn Bischöfe Pfarrer einsetzen, dann setzen sie Menschen in Posten ein, in denen diese Verantwortung für andere Menschen, vor allem für Schutzbefohlene übernehmen.. Das ist ein
Privileg, das einem Menschen aufgrund besonderer Vertrauenswürdigkeit verliehen wird. Seelsorgerliche Tätigkeit ist zugleich immer verbunden mit grossem Vertrauen, das einem
entgegengebracht wird. Daraus ergibt sich aber auch grosse Verantwortung.Es gibt kein Recht auf zweite Chancen bei Privilegien. Man kann sie eben verwirken. Es geht doch umgekehrt
um das zweite Risiko für die möglicherweise Betroffenen, und das vor den Augen der primär Betroffenen, die sich durch die Gewährung solcher zweiten Chancen zu Recht zurückgestoßen
und verhöhnt fühlen müssen.
Neben dem Klerus, neben der Kirche als Institution steht auch die katholische Sexualmoral in der Kritik.
Kirchliche Sexualmoral, wie sie derzeit vom kirchlichen Lehramt dargestellt wird, gehört zum katholischen Geschmack des Missbrauchs. Um das zu erkennen, muss man einfach nur den
Berichten der Opfer zuhören. Und deshalb steht die kirchliche Sexualmoral zu Recht auf dem Prüfstand.Sie ist mit ihren vielen Tabus ein Hindernis für die psychosexuelle Reifung vieler
Menschen.
Wenn die katholische Kirche ihrer eigenen Sexualmoral folgt, muss sie im Prinzip 99% all dessen, was die Menschen im Bereich der Sexualität praktizieren, moralisch verurteilen. Das führt
zu einer Abwendung der Menschen – auch der praktizierenden Katholikinnen und Katholiken.
Zum Beispiel: Wenn es in der Beziehung zwischen zwei jungen Menschen, welche die Treue ernst nehmen bis dahin, dass sie ihre Beziehung auf Ehe hin angelegt haben - wenn es in
dieser Beziehung zu Sex kommt, dann macht die katholische Kirche in ihrer Sexualmoral keinen Unterschied zu einem One-Night-Stand. In der Nacht der katholischen Sexualmoral sind alle
Katzen grau.
Sollte sich die Kirche nicht weniger um die Verteidigung ihrer Sexualmoral kümmern als vielmehr darum, eine vernünftige Sexualethik zu entwickeln?
Natürlich. Und ein Schlüssel dazu scheint mir die Lehre Jesu zur Ehe zu sein. Er hat sie ja im Zusammenhang mit der Kritik an Machtverhältnissen zwischen den Geschlechtern entworfen:
Es geht in der Ehe nicht um Besitzverhältnisse zwischen Mann und Frau geht, sondern um gleiche Würde von Mann und Frau. Nur in dieser Gleichheit kann Sexualität auch ethisch richtig
praktiziert werden. Mit diesem ethischen Impuls ist das Evangelium noch heute über die Kirche hinaus relevant.
Durch die Aufklärung über sexuelle Gewalt ist übrigens auch deutlich geworden – und zwar nicht nur für die Kirche, sondern für die gesamte Gesellschaft – dass es eine sexuelle Handlung
nicht dann schon ethisch richtig ist, , wenn beide Partner einer sexuellen Handlung zustimmen. Das ist eine wichtige Erkenntnis aus der Erfahrung, dass die Opfer darunter leiden, wenn
Täter ihnen unterstellen , sie hätte ja zugestimmt, und es auch gewollt, also sei es doch okay gewesen. Machtgefälle in der sexuellen Begegnung ist eben grundsätzlich nicht in Ordnung,
weder in der patriarchalischen Ehe noch im Verhältnis von Erwachsenen und Minderjährigen.
In vielen Kommentaren wird der Zölibat für den Missbrauch verantwortlich gemacht. Teilweise wird rundweg behauptet, Zölibat mache krank. Sie sind selbst Priester. Was sagen Sie dazu?
Selbstverständlich gibt es Möglichkeiten, den Zölibat auch in einer Weise zu leben, wie ihn die Kirche versteht, einschliesslich der sexuellen Enthaltsamkeit, ohne Doppelleben, und darin
kreativ und liebesfähig zu bleiben. Diesen Anspruch gebe ich ja auch für mein eigenes zölibatäres Leben nicht auf. Deshalb finde ich solche Pauschalisierungen diskriminierend.
Dennoch gehört der Zölibat indirekt in den Kontext des Missbrauchs, weil er in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation und unter den Bedingungen der kirchlichen Sexualmoral eine
gewisse Attraktivität für Menschen hat, die sich mit ihrer Sexualität nicht auseinandersetzen wollen.
Sie äussern sich in sehr klarer Weise zur Missbrauchsthematik, dennoch verwenden Sie nie das Wort «Nulltoleranz». Weshalb nicht?
Ich mag den Begriff überhaupt nicht. Erstens muss es einfach selbstverständlich sein, dass es gegenüber Verbrechen null Toleranz gibt. Zweitens: Hat es jemals einen Zeitpunkt in der
Geschichte der katholischen Kirche gegeben, in der man Verbrechen gegenüber tolerant sein wollte? Und drittens: Erreichen wir mit Nulltoleranz die tieferen Ursachen für Verdrängung und
Vertuschung? – Ich meine: Nein!
Das Verständnis für die systemische Blindheit der Organisation kommt im Begriff Nulltoleranz gar nicht vor. Vielmehr wird damit ein Reinigungsklischee bedient. So wie es beispielsweise
Erzbischof Gänswein kürzlich wieder tat. Dabei kommen dann irreführende Phrasen heraus wie: «Wenn das Haus schmutzig ist, dann muss man es putzen.» – «Man muss die Kirche
reinigen.» – «Man muss das Übel mit Stumpf und Stil ausrotten.» Klingt martialisch, bringt aber nichts.
Nulltoleranz ist eine unterkomplexe Formel, die auf ein höllisch komplexes Thema angewendet wird. Das Problem wird eben nicht einfach dadurch gelöst, dass man die Täter eliminiert.
Und wer meint, ein perfektes System geschaffen zu haben, das jeden Missbrauch verhindert, der ist auf dem besten Weg, die Voraussetzungen für neuen Missbrauch zu schaffen.
Weshalb ist es so wichtig, neben dem Aufarbeiten der einzelnen Missbrauchsfälle auch über das Versagen der Kirche als Institution aufzuklären?
Der Sinn von Institutionen – nicht nur der Kirche – ist der Schutz der Schwächeren gegenüber den Stärkeren. Dass genau dieser Schutz in der Kirche nicht gewährt wurde, das ist der Kern
des institutionellen Versagens. Deshalb hat die Kirche genau an diesem Punkt ihren Zweck als Institution fundamental verfehlt.
Franziskus hat bereits vor seiner Wahl zum Papst in seiner Rede auf dem Konklave von der Versuchung zum institutionellen Narzissmus gesprochen. Die Institution stellt sich selbst, weil sie
ja ein hoher Wert ist, eben weil sie den Schwachen schützen kann, höher stellt als die Aufgabe, die sie hat. Und das ist es, was dazu führt, dass sie genau den Zweck, der ihre
Berechtigung ausmacht, nicht mehr erfüllt.
Interessant und hilfreich ist, dass bereits Jesus in dieser Frage mit den religiösen Autoritäten seiner Zeit im Konflikt stand. Auch er prangert die Selbstüberhöhung der Institution an, die zu
Machtmissbrauch führt.
Sie sind seit dreissig Jahren Lehrer und unterrichten immer noch. Welche Rolle spielt das für ihren persönlichen Umgang mit all diesen Themen?
Eine ganz zentrale Rolle, weil die grosse Aufgabe mit jungen Menschen darin besteht, eine Sprache zu finden, die sie verstehen, ohne dabei die Komplexität der Probleme zu banalisieren.
Das ist eine intellektuelle Herausforderung, die mir jeden Tag Freude macht.
Gesprächs- Auszug: von Thomas Binotto