Das Wort der Engel lockert den Würgegriff der Angst
«Da sagte der Engel zu ihnen: Fürchtet euch nicht!» So
steht es in der
vertrauten Weihnachtsgeschichte im Lukasevangelium.
Die
Weihnachtsbotschaft klingt schön. Sie richtet sich an die Hirtinnen und Hirten, die von der Angst ergriffen werden, als sie
ein Licht blendet in der dunklen Nacht. Aber richten sich die Worte auch an mich?
Ich weiß nicht, ob ich mich genug fürchte. Denn wenn ich die Nachrichten lese und an all das denke, was aus den
Schlagzeilen verschwunden ist, aber noch immer da ist, scheint mir die Furcht gar nicht groß genug sein zu können. Kriege
sind festgefahren, die Opferzahlen steigen unaufhörlich, Menschen sterben für ein paar Meter Geländegewinn. Vergessene
Kriege kehren zurück, suchen Städte heim.
Eigentlich müsste
doch jetzt eine Prophetin auf dem Marktplatz einen
Tonkrug
zerschlagen, mich herausreißen aus der von unzähligen
Lämpchen
erhellten Adventslethargie und mir zurufen: «Fürchte
dich!» Angst
macht wachsam und kann zum Impuls werden für das, was
nötig ist:
Veränderung, Umkehr, Verzicht. Solange ich Angst habe,
bleibe ich
verwundbar, lasse mich berühren vom Leid, das in der
Welt geschieht,
höre den Aufschrei jener, denen Ungerechtigkeit
widerfährt.
Ich glaube nicht,
dass die Engel der Prophetin widersprechen. Ihr
Fürchtet-euch-
nicht von Weihnachten ist kein «Wird-schon». Das Wort
der Engel
verharmlost die dramatische Weltlage nicht. Im
Gegenteil: Es
setzt die Angst voraus. Der Zuspruch der Engel
bereitet den
Boden, damit Herzen und Ohren die Botschaft vernehmen:
wenn der Himmel
sich öffnet und der «Friede auf Erden»
(Lukasevangelium
2,14) verkündet wird.
Angst erhöht zwar
die Wachsamkeit, doch sie droht zu verhärten. Wer in
Angst verharrt,
fasst kein Vertrauen. Die Hirtinnen und Hirten bleiben
nicht bei ihrer
Angst stehen. Sie glauben dem Fürchtet-euch-nicht der
Engel und machen
sich auf, sich der fragilen Botschaft des Friedens
anzuvertrauen,
sich der Hoffnung hinzugeben, dass eine andere Welt
möglich ist. Eine
Welt, in der nicht aus Angst Grenzen geschlossen und
Mauern gebaut werden. Eine Welt, in der Menschen nicht müde werden, Räume für die Versöhnung zu öffnen, und sich weigern,
sich vom Hass zerfressen zu lassen. Eine Welt, in der sich Frauen und Männer nicht beirren lassen und an der Erkenntnis
festhalten, dass es zum Frieden keine Alternative gibt.
Wer sich dem Fürchtet-euch-nicht der Engel anvertraut, wird seine Angst nicht los. Ich stelle mir vor, dass auch die
Hirtinnen und Hirten neugierig, erwartungsfroh und ängstlich vor die Krippe traten. Aber der Zuspruch der Engel befreit
aus dem Würgegriff der Angst und lenkt den Blick dahin, wo sich Weihnachten ereignet. Nach Belarus, wo mutige Menschen
politischen Gefangenen Zeichen der Solidarität zukommen lassen, ohne Angst, selbst als Extremistinnen verunglimpft zu
werden. Oder nach Libanon, wo eine armenische Kirchgemeinde in Beirut vertriebenen Muslimen Hilfsgüter zukommen lässt.
Überall dort, wo sich Menschen einander in Hilfsbereitschaft zuwenden, wird Weihnachten und brennt das Licht, das «scheint
in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht erfasst» (Johannesevangelium 1,5).
Felix Reich
Redaktionsleiter reformiert. Zürich