«Wenn es Gott nicht gibt, gibt es keine Wahrheit»
Die Gretchenfrage beschäftigt zurzeit viele Denker. Während die einen euphorisch von der Rückkehr des Religiösen sprechen,
rechnen andere gnadenlos mit der Religion ab. Darüber haben wir 2008 mit Robert Spaemann gesprochen. Ein Interview zum
Nachdenken und im Andenken an den deutschen Philosophen, der am 10. Dezember 2018 gestorben ist.
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Sr. Maria-Amadea
Kloster Heiligkreuz, Cham
49, Kirchenmusikerin (Orgel B) und
Komponistin
Früher bekämpften sich Glaubensgegner mit Waffen, heute mit Büchern. Angeführt vom Evolutionsbiologen Richard Dawkins, dessen Bestseller den Titel «Der Gotteswahn» trägt, ziehen moderne Atheisten
wie Christopher Hitchens, Daniel Dennett oder Sam Harris gegen alles zu Felde, was mit Religion zu tun hat. Die AtheismusWelle ist längst vom angelsächsischen Raum zu uns herübergeschwappt. Doch sie
bleibt nicht unwidersprochen. Wir sprachen mit dem Philosophen Robert Spaemann, der sich intensiv mit der Gottesfrage befasst, über die Motive dieses oftmals militanten neuen Atheismus und darüber, was
ihm entgegenzusetzen sei.
forum: Warum gerade jetzt diese Häufung von neuer atheistischer Literatur und warum diese Vehemenz, um nicht zu sagen Militanz? haben Sie dafür eine Erklärung?
Robert Spaemann: Eine wirkliche Erklärung habe ich nicht, jedoch ein paar Vermutungen. Zum einen gibt es eine gewisse Wiederkehr der Religion. Religiöse Themen interessieren heute mehr Menschen als
noch vor zehn Jahren. Auch im Zusammenhang mit dem Islam wird Religion heute wieder zu einem ganz wichtigen Thema. Das aktiviert nun Leute, die bisher still vor sich hin Atheisten waren und die sich jetzt
veranlasst sehen, etwas dagegen zu unternehmen.
Das Zweite ist der Vormarsch des Szientismus, das heisst einer Weltanschauung, für welche die Naturwissenschaft der ausschliessliche Zugang zu unserer Welterkenntnis darstellt. Der Szientismus
verbindet sich mit einem geradezu rauschartigen Machtgefühl. Die Genforschung beispielsweise eröffnet uns Möglichkeiten der Manipulation und des Zugriffs auf die menschliche Natur. Da gibt es nur noch
einen Widerstand, und das ist in einem weitgefassten Sinne ein religiöser. Es scheint mir so zu sein, dass die Menschen, die von diesem Machtwillen und von der Vorstellung besessen sind, allmählich alles
machen zu können, nun das Haupthindernis beseitigen möchten, das diesem totalen Zugriff im Wege steht. Es erstaunt nicht, dass die meisten neuen Atheisten Biologen sind. Gerade in der Bioethik wird
dieser Gegensatz – was darf man alles machen, was darf man nicht machen? – sehr deutlich. Und es gibt noch einen Punkt, an dem die Frage nach der Religion wichtig wird: im Zusammenhang mit dem
Gedanken einer Verantwortung des Menschen für sich selbst.
Was hat das mit Religion zu tun?
Während Verantwortung für andere auch auf nichtreligiöse Weise zu begründen ist, kann es Verantwortung für sich selbst nur geben auf einem religiösen Hintergrund. Denn Verantwortung ist immer
Verantwortung für etwas und Verantwortung vor jemandem. Wenn ich selbst der Einzige bin, vor dem ich mich rechtfertigen muss für das, was ich mit mir selber mache, dann gibt es diese Verantwortung gar
nicht. Ich kann mich ja jederzeit von ihr dispensieren. Es ist interessant, dass in den neuzeitlichen Ethiken, die nicht religiös formuliert sind, der Gedanke der Verantwortung des Menschen für sich selbst gar
nicht mehr vorkommt. Man hat Verantwortung gegenüber anderen, die betroffen sind von meinem Handeln. Doch dass ich auch mit mir nicht machen kann, was ich will, dass die Begabung, die ich habe, auch
eine Verpflichtung enthält, dass ich mich nicht beliebig verkommen lassen und mich nicht zu Beliebigem hergeben darf, das ist nicht religiös schwer zu begründen. Auch dieses Hindernis möchte der neue
Atheismus beseitigen. Sie sehen: Da kommen verschiedene Motive zusammen.
Warum aber diese Aggressivität, mit der gewisse neue Atheisten auftreten?
Diesbezüglich gibt es etwas, das ich böse nennen möchte. Denn wenn jemand eine Botschaft hat, die dem Menschen eine grosse Freude verkündet, wie es an Weihnachten heisst, die eine unerhörte
Hoffnung weckt und damit das ganze Leben in ein Licht stellt, das es sonst gar nicht geben würde, dann kann man leicht verstehen, warum jemand missionarisch tätig ist: Weil er anderen etwas von dieser
Freude mitteilen möchte. Warum aber jemand missionarischen Eifer entfaltet, um diese Freude zu töten, um den Menschen die Hoffnung aus dem Herzen zu reissen, das ist schwer zu verstehen. Wenn ich
das Unglück hätte, ein Atheist zu sein, dann würde ich das ganz still für mich behalten. Ich würde doch nicht anderen Menschen eine traurige Überzeugung aufschwätzen ohne Not.
Sie haben den Islam angesprochen. Ein wichtiges Argument der neuen Atheisten lautet in der Tat: ohne Islam hätte es den 11. September 2001 nicht gegeben, es gäbe keine Steinigungen, keine
Zwangsbeschneidungen und so weiter. Was soll man dagegen sagen?
Das ist ja auch richtig. Nur: Es wäre kurzsichtig, die Religion als solche für diese Geschehnisse verantwortlich zu machen, denn wir haben leider inzwischen die Gegenprobe. Wir haben das Antichristentum
atheistischer Art seit der Aufklärung. Und die Abermillionen von Opfern, die das insbesondere im 20. Jahrhundert gefordert hat, lassen es geradezu lächerlich werden zu sagen: Wenn’s die Religion nicht
gäbe, dann gäbe es all diese schlimmen Dinge nicht. Wir müssen fragen: Was für eine Religion und was für eine Vorstellung von Gott stecken hinter Selbstmordattentaten und dergleichen? Wenn wir nichts
anderes anzubieten haben als den Atheismus, dann haben wir sowieso keine Chance. Denn nicht bloss die Islamisten, alle gläubigen Moslems haben einen gewissen Respekt vor anderen
Glaubensüberzeugungen, aber sie haben überhauptkeinen Respekt vor einer atheistischen Zivilisation. Dafür haben sie nur Verachtung übrig. Insofern leistet der Atheismus dem Islamismus Vorschub.
Dann lassen Sie uns das doch gleich machen. Ich zähle einige der Hauptargumente der neuen Atheisten auf und Sie kommentieren sie. Erstes Argument: «Weil der Mensch die Tatsache des endgültigen Todes
seiner selbst und derjenigen, die er liebt, nicht ertragen kann, braucht er die Hinterwelt Religion.»
Wenn der Mensch das schwer ertragen kann, muss man fragen: Woher kommt das? Wenn es so wäre, dass in Wirklichkeit mit dem Tod alles aus ist, dann müsste doch ein Wesen, das durch die Evolution in
die Wirklichkeit eingepasst ist, mit diesem Gedanken von vornherein versöhnt sein und damit kein Problem haben. Die Tatsache, dass die Menschen von Anfang an und seit es sie gibt, über den Tod
hinausdenken, legt doch eher die Vermutung nahe, dass dem irgendetwas entspricht. Das Vorkommen von Durst, um eine Analogie zu verwenden, ist ein Argument dafür, dass es Wasser geben muss, denn
sonst gäbe es kein Wesen, das Durst hat.
Zweites Argument: «Religionen – zumal monotheistische – sind Katalysatoren von Gewalt.»
Und der Unglaube generiert noch grössere Gewalt! Ich sagte schon: Die Zahl der Opfer, die der Unglaube gefordert hat, übertrifft bei weitem alles, was jemals Religionen gemacht haben. Daraus folgt, dass
offenbar weder der Unglaube noch die Religion als solche Gewalt generieren, sondern dass der Mensch ein gewalttätiges Wesen ist und dass das, wofür er Gewalt anwendet und wofür er auch sein Leben
riskiert, das ist, was ihm wichtig ist. In Zeiten, in denen den Menschen die Religion das Wichtigste ist, töten sie sich für die Religion. Da, wo das Öl für sie am wichtigsten ist, töten sie sich für Öl. Dagegen gibt
es nur ein schlüssiges Argument, und das ist wiederum die Religion.
Die Botschaft Jesu gibt eine religiöse Motivation für den Verzicht
auf Gewalt. Hingegen kenne ich keine atheistische Argumentation für
den Verzicht auf Gewalt.
Drittes Argument: «Religion ist der Feind der Wissenschaft.»
Religion ist der szientistischen Weltanschauung entgegengesetzt, die
davon ausgeht, unser einziger Zugang zur Wirklichkeit sei die
Wissenschaft. Wenn ich einen Menschen liebe und ihn sehr gut
kenne, dann ist mein Zugang zu ihm kein wissenschaftlicher. Im
Gegenteil, ich würde diesen Menschen von mir entfremden, wenn ich
anfinge, ihn zu psychologisieren und ihn mit wissenschaftlichen
Kategorien zu betrachten. Es gibt in diesem Sinne eine Grenze der
Wissenschaft. Gott kommt im innerweltlichen Bereich der
Wissenschaft nicht vor, so wie der Projektor eines Films im Film nicht
vorkommt. Insofern ist die Religion etwas, das der Wissenschaft
Grenzen setzt.
Gleichzeitig muss man aber sagen, dass es der religiöse Glaube ist,
der das Vertrauen in die Vernunft kräftigt. Nietzsche hat gesehen,
dass die Wissenschaft der Aufklärung eine Tendenz hat, sich selbst
aufzuheben. Nietzsche sagte einmal, wenn die Wissenschaft die
Idee von Gott aufgehoben hat, dann hat sie auch ihre eigenen
Grundlagenzerstört, nämlich den Glauben an Wahrheit. Denn
wenn es Gott nicht gibt, dann gibt es keine Wahrheit. Dann gibt es nur
individuelle Perspektiven, doch es gibt die Wirklichkeit als solche
nicht. Wenn heute die Hirnforschung versucht, die menschliche
Vernunft, das Ich, das Selbst aufzulösen, so ist das ein schönes
Beispiel dafür, wie die Religion die Vernunft und die Wissenschaft
gegen ihre immanente Tendenz der Selbstaufhebung verteidigt.
Verteidigung der Wissenschaft und der Vernunft und Grenzsetzung
für die wissenschaftliche Weltanschauung sind eng miteinander
verbunden.
Viertes Argument: «Religiöser Glaube hat evolutionäre Wurzeln.
Obwohl es keinen Gott gibt, ist die Spezies Mensch auf Glauben
hin angelegt, weil das ihre Überlebenschancen erhöht.»
Wenn man Religiosität als überlebensdienlich und nützlich bezeichnet,
was für einen Sinn macht es dann, dieses Nützliche zu zerstören?
Und genau das tut derjenige, der sagt, Gott ist nur eine Idee des Menschen. Denn an Gott glauben heisst, denken, er sei auch unabhängig von meinem Glauben wirklich. Der Evolutionstheoretiker legt an alles
ein bestimmtes Schema an. Er versucht immer herauszubekommen, wie erhaltungsdienlich etwas ist. Das muss auch für seine eigene Theorie gelten. Man müsste also sagen, Dawkins hat seine Bücher
geschrieben, nicht weil er denkt, dass das wahr ist, sondern weil er seinen Genen einen Vorteil verschaffen will durch diese Theorie. Das kann man nun interessant finden oder nicht, aber man kann nicht mehr
über die Wahrheit dieser Theorie diskutieren.
Warum soll man dann dagegen argumentieren und die neuen Atheisten nicht einfach als Spinner abtun?
Weil sich auch die grösste Spinnerei unwahrscheinlich ausbreiten kann. Denken Sie nur, wie sich der Hexenwahn in Europa ausgebreitet hat, obwohl es der schrecklichste Aberglaube war. Eine Sache kann so
absurd sein, wie sie will, wenn es Motive gibt, sich diese Sache anzueignen, dann kommt es dazu. Schon vor Jahrzehnten hat Heinrich Böll einmal gesagt, dass er nicht leben möchte in einer Zivilisation, die ins
Heidentum zurückgefallen ist.
Viele sagen, auch der Atheismus sei eine Glaubensüberzeugung. Stimmen Sie dem zu?
Ja, dem ist so. Sehr schön deutlich wird das beim amerikanischen Philosophen Daniel Dennett, der auch zu diesen kämpferischen Atheisten gehört. In seinem Buch über das menschliche Bewusstsein schreibt
er: Ich möchte hier erklären, dass ich jede Art von Dualismus – also von Gedanken, dass es ausser dem Materiellen noch irgend etwas anderes gäbe – von vornherein ablehne und mich auch durch kein
Argument eines Besseren belehren lassen werde. Das aber ist nichts anderes als ein Dogma.
Zum Schluss eine persönliche Frage: Hatten Sie selber auch schon atheistische Phasen?
In einer radikalen Art, nein. Natürlich, wenn man jugendlich ist, stellt man vieles in Frage und zweifelt an allem Möglichen. Aber der Zweifel ist bei mir immer ein theoretischer geblieben und hat mich nie davon
abgehalten, den Besuch der Messe fortzusetzen, weil der Zweifel nie zu einer Gewissheit geworden ist. Denn ich habe mir immer gesagt, es könnte ja wahr sein, und dann würde ich einen grossen Fehler
machen, wenn ich nicht hinginge. So kann ich sagen: Das Geschenk, glauben zu können, hat mich eigentlich nie verlassen, obschon ich weiss, dass es einem abhandenkommen kann.
Dieser Beitrag erschien erstmals in der forum-Ausgabe 3/2008.