GLAUBEN HEUTE
Stolperstein «Jungfräulichkeit»
Adriano Burali
Pfarrer in St. Gallus Fischenthal
Radikal feministisch
Ich will nicht die Jungfräulichkeit Marias erklären oder verteidigen. Mir be¬reitet sie keine Glaubenszweifel. Ich würde es Gott
genauso zutrauen, dass er Jesus auf «natürliche» Weise ohne Jungfrauengeburt in die Welt schickte.
Viel spannender finde ich die
emanzi¬patorische Sprengkraft, die in
der Jung¬fräulichkeit als
Lebensentwurf steckt. Seit Urzeiten
wurden Frauen auf die Rolle der
Mutter festgelegt: Kinder ge¬bären und
damit das Überleben der
Menschheit sichern. Eine Frau, die sich
bewusst dafür entscheidet,
Jungfrau zu bleiben, ver¬weigert sich
dem traditionellen Rollen-schema
und auch der patriarchalen Macht. Sie
emanzipiert sich auf beson¬ders
radikale Weise. Doch dies wird trotz der
Propagie¬rung sexueller Diversität
selbst in un¬serer hoch
individualisierten Zeit nicht
gewürdigt. Während man Homosexua-
lität zu Recht nicht mehr als Krankheit
behandelt, wird hinter bewusst gewähl¬ter
Jungfräulichkeit genau wie hinter dem
Zölibat ein psychisches Defizit ver¬mutet.
Es wird gar behauptet, wer sexuell
enthaltsam lebe, könne gar nicht
psy¬chisch gesund sein.
Jungfräulichkeit wird damit stigmatisiert.
Mehr noch als Homo-sexualität scheint
Jungfräulichkeit un¬sere Gesellschaft in
ihrem sexuellen Selbstverständnis
herauszufordern. Nonnen sind so gesehen
Ausbreche¬rinnen aus einem
patriarchalen System und Frauenklöster
Bastionen der Re¬bellion. Selbst die
katholische Kirche fühlt sich von
Jungfräulichkeit bedroht. Als die
Beginen im Mittelalter in Grup¬pen ohne
Klausur ihren Lebensentwurf
realisieren wollten, wurden sie vom
kirchlichen Patriarchat attackiert und in
eine Klosterordnung zurückgedrängt, in
der letztlich immer ein Mann an der
Spitze stehen musste. Die Weigerung,
Frauen zu Priesterinnen zu weihen, ist
deshalb auch eine Einschränkung des
jungfräulichen Lebensentwurfs. Dass
Maria als Jungfrau ein Kind ge¬boren hat,
erscheint auf den ersten Blick wieder
als Festlegung der Frau auf die
Mutterrolle, eine Rückkehr ins
patriar¬chale System. Und die
Jungfrauengeburt wurde über Jahrhunderte genau so in¬terpretiert. Sie kann aber auch als Zei¬chen für eine noch radikalere Abkehr vom Patriarchat gedeutet werden.
Hier braucht eine Frau nicht einmal mehr einen Mann, um ein Kind gebären zu können. Gott nimmt damit dem Mann die letzte Aufgabe, für die er sich als wirklich
unverzichtbar hielt. Die Jung¬fräulichkeit Marias ist damit ein an Radikalität kaum mehr zu überbietendes feministisches Fanal. So radikal, dass wir – und nicht nur wir
Männer – es bis heute nicht recht glauben mögen.
SCHLUSSTAKT
Jeder Christ ist zur Heiligkeit berufen. Dabei geht es nicht um grosse Taten, sondern um die kleinen Schritte im alltäglichen Leben. Dazu ermutigt Papst Franziskus
mit seinem neuen Schreiben «Gaudete
et exsultate», sagt der Wiener Kardinal Christoph Schönborn.Der Wiener Erzbischof nannte das päpstliche Schreiben eine Art «Handbüchlein, wie es immer wieder geistliche Lehrer
verfasst haben; sehr praktisch, lebensnah und praktikabel.» Es handle sich um keine grosse theologische Abhandlung, wiewohl es auf einem «soliden theologischen Fundament»
beruhe. Jedermann könne und solle sich damit auf den Weg zur täglichen Heiligkeit machen. Das neue Schreiben würde die bisherigen drei päpstlichen Schreiben («Evangelii
gaudium», «Laudato si'» und «Amoris laetitia») ergänzen. Es sei quasi der «Brennstoff», damit das Engagement der Christen für das Evangelium, die Umwelt und die Familie kraftvoll
bleibt.Ausdrücklich unterstrich Schönborn die von Papst Franziskus angeführten Gefahren eines elitären «Leistungs-
christentums», das Gott als Buchhalter der menschlichen Leistungen sieht und in dem die meisten Menschen keinen Platz hätten, das aber gar nicht dem Christentum entspricht. Zur
Frage, ob das Schreiben auch als Kritik des Papstes an Kräften innerhalb der Kirche zu verstehen sei, die mit seinem Kurs nicht einverstanden sind, meinte Schönborn: «Dieses
Schreiben dient sicher auch der Gewissenserforschung. Jeder kann sich fragen, ob der Papst damit auch mich meint.» Eines sei für Papst Franziskus jedenfalls ganz wesentlich: Ohne
den in der Bergpredigt genannten Einsatz für Hungrige, Durstige, Fremde, Mittellose oder Kranke könne es keine Heiligkeit geben. Schliesslich sei das «Christentum gemacht, um
gelebt zu werden».Einprägsam seien die vielen starken Bilder und Worte, die Papst Franziskus verwendet. Wenn er etwa vor der Gefahr digitaler Oberflächlichkeiten warnt und
wörtlich vom «Faktor der Verblödung» spricht. An anderer Stelle wiederum übt er heftige Kritik an «geist-
licher Korruption».Das kirchliche Verfahren der Heiligsprechung werde vom Papst hingegen nicht angesprochen. Thema sei nicht, «wie man heiliggesprochen wird», sondern er
thematisiere eben die Berufung jedes Christen zur Heiligkeit.Papst Franziskus knüpfe damit unter anderem auch bei Papst Benedikt XVI. an, so Schönborn. Dieser hatte einst eine
grosse Katechesenreihe über bedeutende Heilige in der Kirche gehalten. Seine abschliessende Katechese war schliesslich den vielen unbekannten Heiligen gewidmet, denn: «Das breit
Tragende in der Kirche und in der Welt ist die täglich gelebte einfache Heiligkeit.»
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